Zeitumstellung: Plädoyer für die Winterzeit
Würden Sie freiwillig sieben Monate im Jahr in einer falschen Zeitzone leben? Mit der jährlichen Umstellung auf Sommerzeit tun wir genau das. Wir stellen jedes Jahr brav am letzten Wochenende im März die Uhren eine Stunde vor – und Ende Oktober wieder zurück.
Dabei ist die Zeitumstellung nicht sonderlich beliebt. In einer nicht repräsentativen Umfrage der EU-Kommission sprachen sich 2018 über 80 Prozent von 4,6 Millionen teilnehmenden EU-Bürgern gegen sie aus. Das EU-Parlament stimmte daraufhin im März 2019 für die Abschaffung. Jedoch müssen die einzelnen Mitgliedstaat noch entscheiden, ob die eigene Bevölkerung künftig permanent in der Sommer- oder in der Winterzeit leben soll. Die meisten Deutschen wünschen sich laut dieser EU-Umfrage die ganzjährige Sommerzeit – aus wissenschaftlicher Sicht wäre dies eine Fehlentscheidung.
Vielleicht liegt es am Begriff: »Summertime and the livin' is easy«, der Song von Ella Fitzgerald geht einem noch immer unter die Haut. Die Bezeichnung »Sommerzeit« könnte viele dazu verführen, an die schönste Zeit des Jahres zu denken, an Wärme, eine farbenprächtige Natur, Urlaub, Strand oder Biergarten. Unwillkürlich erhält damit die ewige Sommerzeit etwas ausgesprochen Positives.
Doch die Umstellung auf die Sommerzeit, die in Deutschland erstmals im Frühjahr 1916 erfolgte, ist nichts anderes als eine soziale Konvention. Eine Konvention, nach der wir kollektiv eine Stunde früher zur Arbeit oder zur Schule gehen. Und genau dieser Umstand stellt eine enorme Belastung dar. Das Leben nach einer unnatürlichen »Kunstzeit« wirkt sich nämlich nachteilig auf die innere Uhr des Körpers aus, welche sich nicht parallel mit der Armbanduhr umstellen lässt. Um es klar zu sagen: Unsere innere Uhr harmoniert besser mit der Winterzeit, also der Normalzeit.
Was aber genau ist diese innere Uhr? Sie synchronisiert die Abläufe in unserem Körper mit dem 24-Stunden Rhythmus der Umwelt. Beim Menschen orientiert sie sich vor allem am Tageslicht, über die Augen, und zwar mit Hilfe des Nucleus suprachiasmaticus. Der Hirnkern ist Teil des Hypothalamus und liegt über der Kreuzung der Sehnerven. Durch sie erhält er Informationen über die Lichtverhältnisse und leitet sie wiederum an die Zirbeldrüse weiter.
Diese reguliert unseren Schlaf-wach-Rhythmus: Bei Dunkelheit schüttet sie Melatonin aus, welches, neben anderen Botenstoffen, den Schlaf einleitet. Mit dem anbrechenden Tageslicht am Morgen wird die Produktion des Hormons unterdrückt, dann übernimmt der Wachmacher Kortisol die Regie und lässt uns energiereich in den Tag starten. So bestimmen Sonnenauf- und -untergang unerbittlich die Zeit, binnen derer wir etwas leisten können oder besser ruhen sollten. Und einfach verschieben, selbst um nur 60 Minuten, lässt sich dieses biologische System nicht.
Ein weit verbreitetes Missverständnis ist der Vergleich der Zeitumstellung mit einem Jetlag nach einer Fernreise. Vereinfacht gesagt gleicht die Umstellung auf Sommerzeit jedoch dem Verreisen, ohne dabei den Ort zu verlassen. Das ist so, als würden Sie zwar in Deutschland leben, aber permanent für eine Firma mit Sitz in Athen oder Bukarest gemäß den jeweils dortigen Arbeitszeiten arbeiten. Mit anderen Worten: Wenn Sie nach der Winterzeit (Normalzeit) morgens um 6 Uhr aufstehen, dann müssen Sie nach Umstellung auf Sommerzeit zwar ebenfalls aufstehen, wenn der Zeiger auf 6 Uhr steht, nach der Normalzeit wäre es aber erst 5 Uhr morgens.
Das grundlegende Problem besteht darin, dass es während der Sommerzeit − im Verhältnis zur Winterzeit − abends zu hell und (vor allem zu Beginn der Sommerzeit) morgens zu dunkel ist. Zu wenig Licht am Morgen schwächt die Synchronisation unserer inneren Uhr mit der Umwelt, und zu viel Licht am Abend führt dazu, dass man zur Nacht hin erst spät müde wird. Trotzdem müssen die meisten Menschen aber morgens früh raus – die Folge ist Schlafmangel.
Dabei gilt es zu bedenken, dass wir mit der Einführung des künstlichen Lichts sowieso an Schlaf eingebüßt haben. So haben wir in den letzten 150 Jahren fast zwei Stunden Schlaf »verloren«. Im Schnitt schlafen US-Amerikaner heute um die 6,5 Stunden, Deutsche bringen es immerhin auf etwa 7 Stunden. Doch laut der US-amerikanischen Sleep Foundation sind 7 bis 9 Stunden Schlaf optimal für Erwachsene.
Wer hat an der Uhr gedreht?
In den Industrieländern reifte im 20. Jahrhundert die Ansicht, dass man durch Einführung der Sommerzeit mit der einen Stunde mehr Abendsonne Energie – sprich Öl und Gas – sparen könne, es zu weniger Verkehrsunfällen komme, die abendliche Kriminalität abnehme und dass das späte Licht die Freizeitaktivitäten und damit auch die Wirtschaft ankurbele. Im Vereinigten Königreich wurde die permanente Sommerzeit bereits zwischen 1968 und 1971 erprobt. Insbesondere die Schotten lehnten sich aber gegen die »ewige« Dunkelheit in den Morgenstunden auf, daher wurde das Experiment wieder beendet. In Deutschland gab es seit dem Ersten Weltkrieg wiederholt Phasen, in denen zweimal im Jahr an der Uhr gedreht wurde. Zwischen 1950 und 1980 gab es hier zu Lande jedoch keine Sommerzeit. Seit 1996 ist die halbjährliche Zeitumstellung innerhalb der EU einheitlich geregelt. Begründet wurde die Vereinheitlichung vor allem mit Vorteilen für Handel und mit effizienterem Energieverbrauch. Inzwischen wissen wir allerdings, dass keine Energie gespart wird. Während der ewigen Sommerzeit wären wir vielmehr auf zusätzlichen Strom und künstliches Licht in den dunklen Morgenstunden angewiesen.
Wenn wir dauerhaft zu wenig schlafen, steigt zum Beispiel die Gefahr, Bluthochdruck, eine Herzrhythmusstörung oder Herzschwäche zu entwickeln. Wir neigen dann außerdem dazu, mehr und fettreicher zu essen, uns weniger zu bewegen und zuzunehmen. Sairam Parthasarathy und seine Kollegen vom Arizona Respiratory Center in Tucson wiesen 2015 nach, dass anhaltender Schlafmangel das Sterberisiko von Menschen während eines 20-jährigen Untersuchungszeitraums signifikant erhöhte.
Es verwundert daher nicht, worauf eine wachsende Zahl von Studien hindeutet: Die Zeitumstellung macht etlichen Menschen zu schaffen. Insbesondere so genannte Abendtypen – auch »Eulen« genannt – und Menschen mit Schlafstörungen leiden darunter. Jugendliche sind häufig Eulen, das heißt, sie kommen morgens vergleichsweise schlecht aus dem Bett und bleiben dafür gern lange auf. Je später Menschen in die Gänge kommen, desto früher am Tag sollten sie Tageslicht ausgesetzt sein. Gleichzeitig ist ein Zuviel an Licht am Abend zu vermeiden.
Einer von uns (Thomas Kantermann) und seine Kollegen haben in den Jahren 2006 und 2007 deutliche Hinweise darauf gefunden, dass die Umstellung auf Sommerzeit die Abendtypen besonders belastet, womöglich die ganzen sieben Monate lang. Die Arbeitsgruppe belegte anhand der Daten von 55 000 Befragten, dass sich die Schlafenszeiten den saisonalen Veränderungen der Morgendämmerung anpassen. Dies tun sie der Studie zufolge jedoch nur während der Normalzeit. Die Umstellung auf Sommerzeit brachte das minuziöse Timing hingegen aus dem Takt. Selbst Wochen nach der Umstellung im Frühjahr hatte sich die innere Uhr der »Eulen« nicht an die soziale Zeit angeglichen – ein Zustand, der als »sozialer Jetlag« bezeichnet wird. Aber auch den »Lerchen«, also Menschen, die am liebsten früh schlafen gehen und früh aufstehen, gelang die Anpassung bloß unvollständig.
Testen Sie sich einmal selbst! Ein deutliches Zeichen für einen sozialen Jetlag ist, wenn Sie zum Aufstehen einen Wecker benötigen. Es zeigt, dass Ihre Körperuhr und die soziale Uhr nicht miteinander im Einklang stehen. Der soziale Jetlag nimmt dabei nicht nur mit der Uhrenumstellung im Frühjahr zu, er variiert außerdem innerhalb einer Zeitzone: Je weiter westlich ein Ort in einer Zeitzone liegt, desto später geht hier die Sonne relativ zur Uhrzeit auf. Wie empfindlich unser Körper auf die regionalen Besonderheiten reagiert, konnte die Medizinerin Fangyi Gu vom US-amerikanischen National Cancer Institute in Maryland 2017 nachweisen. So stieg das Risiko, an Krebs zu erkranken, von den östlichen zu den westlichen Rändern innerhalb jeder der vier amerikanischen Zeitzonen hin an. Darüber hinaus gibt es Indizien dafür, dass ein sozialer Jetlag auch das Risiko erhöht, eine Depression zu entwickeln.
Jugendliche leiden besonders
Die Studienlage zu den kurzfristigen Auswirkungen der Zeitumstellung auf Gesundheit und kognitive Leistungsfähigkeit ist weniger eindeutig. Das hat mehrere Gründe: Zum einen sind die Stichproben der Studien meist klein und der Beobachtungszeitraum kurz; zudem ist es äußerst schwierig, konstante Rahmenbedingungen herzustellen. Auch sind Ergebnisse aus verschiedenen Ländern auf Grund unterschiedlicher Breitengrade und Lichtverhältnisse nur bedingt vergleichbar. Zuletzt erleben nicht alle Menschen die Beeinträchtigungen gleich stark. Und so leiden die einen mehr und die anderen weniger oder gar nicht unter der Uhrenumstellung.
Recht gut belegt ist immerhin, dass besonders Jugendliche negativ von der Umstellung im Frühjahr betroffen sind. Sie schlafen in der ersten Woche insgesamt weniger, schlafen weniger gut ein und schlechter durch und sind tagsüber daher im Schnitt müder als sonst. Diana Medina zeigte 2015 an der Cornell University in New York, dass die Umstellung auf Sommerzeit bei Studenten zu Schlafmangel, verzögerten Reaktionszeiten und mehr Fehlern während eines psychomotorischen Aufmerksamkeitstests führte.
In den Tagen nach der Zeitumstellung im Frühjahr kommt es auch zu mehr Verletzungen am Arbeitsplatz, und die Zahl der Arztbesuche nimmt in den ersten zwei bis drei Wochen generell zu. Offenbar steigt zum Beispiel das kardiovaskuläre Risiko: Eine Übersichtsarbeit des italienischen Mediziners Roberto Manfredini von der Universität Ferrara aus dem Jahr 2018 legt nahe, dass insbesondere die Zeitumstellung im Frühjahr mit einer erhöhten Anzahl an Herzinfarkten einhergeht. Damit nicht genug: Kyoungmin Cho von der University of Washington wies 2017 nach, dass Richter zu Beginn der Sommerzeit härtere Urteile fällen.
Einzelne Studien kommen zwar zu dem Schluss, dass es bei Sommerzeit weniger Verkehrsunfälle gibt, weil es beim abendlichen Berufsverkehr heller ist. Allerdings darf man nicht vergessen, dass es im Sommer (ganz unabhängig von der Sommerzeit) länger hell ist und die Unfallgefahr dadurch allgemein sinkt. Würde ganzjährig die Sommerzeit gelten, fände der morgendliche Berufsverkehr vor allem im Winter noch stärker als bisher im Dunkeln oder bei Dämmerung statt, was die Unfallzahlen ansteigen lassen würde.
Was, wenn die Sommerzeit käme?
Wie sähe das Szenario einer ganzjährigen Sommerzeit aus? Im Sommer schlafen wir natürlicherweise später, dies wird allerdings durch die künstliche Sommerzeit verstärkt. Im Herbst, im Winter und teilweise auch im Frühling müssten wir zudem morgens im Dunkeln aus dem Haus. Am schlimmsten würde es den Norden Deutschlands treffen: In List auf Sylt, der nördlichsten Gemeinde Deutschlands, würde die Sonne im Dezember erst gegen 10 Uhr aufgehen!
Methodisch ist es schwierig, die langfristigen Effekte einer permanenten Sommerzeit zu untersuchen. Hierzu müsste man die Auswirkungen im Vergleich zu einer dauerhaften Winterzeit innerhalb eines Landes vergleichen. In Russland war dies jedoch möglich. Hier wurde 2011 die ganzjährige Sommerzeit eingeführt. Die Folgen für die Bevölkerung waren derart negativ, dass man sich 2014 für die durchgängige Normalzeit entschied. Mikhail Borisenkov von der Russischen Akademie der Wissenschaften untersuchte von 2009 bis 2016 insgesamt 8000 russische Kinder und Jugendliche. Während der künstlichen Sommerzeit stieg unter der Woche die Anzahl derer mit sozialem Jetlag und chronischem Schlafmangel. Viele der Heranwachsenden zeigten außerdem im Sommer Symptome einer Winterdepression.
Die Studienlage ist eindeutig: Wir sollten die permanente Winterzeit einführen
Zu wenig Schlaf verursacht auf Dauer nicht nur kognitive Defizite, sondern kann auch körperlich krank machen. Brian Preston fand 2009 am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig heraus, dass jene Säugetiere, die am längsten schlafen, die höchsten Konzentrationen an weißen Blutkörperchen im Blut haben. Sie sind somit resistenter gegenüber Parasiten und anderen Erregern. Wie wichtig Schlafdauer und Schlafeffizienz für unsere Immunabwehr sind, legte Sheldon Cohen von der Carnegie Mellon University in Pittsburgh 2009 dar. Er infizierte 135 Teilnehmer per Nasenspray mit einem Rhinovirus und schickte sie mehrere Tage in Quarantäne. Wer weniger als sieben Stunden pro Nacht schlief, entwickelte dreimal häufiger eine Erkältung als Probanden mit mehr als acht Stunden Schlaf. Und Personen, die mehr als acht Prozent der Zeit wach lagen, waren ebenfalls anfälliger für eine Infektion. Auch eine Grippeschutzimpfung ist nur dann sinnvoll, wenn Sie danach ausreichend schlafen, denn sonst nimmt die Immunantwort ab.
Die Umstellung auf die Winterzeit stellt hingegen für die meisten Menschen kaum ein Problem dar. Für die Rückkehr zur Normalität wird die Nacht der Uhrenumstellung um eine Stunde verlängert. Das kommt unserer inneren Uhr gelegen, denn bei den meisten Menschen läuft sie etwas langsamer als im 24-Stunden-Takt.
Die Studienlage ist eindeutig: Wir sollten die permanente Winterzeit einführen. Sie ist die Normalzeit und entspricht eher unserem biologischen Rhythmus: Im Winter werden wir durch den helleren Morgen besser wach und fit, im Sommer können wir dann bei früh einsetzender Dunkelheit besser einschlafen. »Sommerzeit« mag sich gut anhören, bringt aber unerwünschte Nebenwirkungen mit sich und hat kaum positive Effekte. Im Gegenteil: Sie ist chronobiologisches Gift für uns.
Sollte sie aller Vernunft zum Trotz dennoch dauerhaft eingeführt werden, dann müssen wir die genannten Risiken tragen und versuchen, sie zu mindern. Das heißt, wir sollten uns im Winter um mehr künstliches Licht am Morgen bemühen und dürften die hellen und lauen Sommerabende nur selten genießen, um trotzdem zeitig ins Bett zu gehen.
Oder wir verändern unser gesellschaftliches Leben dahingehend, dass Schule und Arbeit später oder flexibel beginnen oder der Mittagsschlaf in Deutschland salonfähig wird. Solche Strategien brauchen wir eigentlich schon heute, damit wir endlich genügend schlafen.
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